Ich glaube Ihnen!
Wenn heute metoo in aller Munde ist und man die Berichte über unglaubliche "Vorgänge" anzweifelt, dann möchte ich erinnern, wozu Systeme auch im Sport fähig waren und noch immer sind. Wir vergessen nur sehr schnell. Zu schnell.
Marina Kaschub erzählt:
„Nimm das, Marina! Das sind Vitamine. Die helfen.“
Marina Kaschub ist 13 Jahre alt, als sie 1970 nach Berlin auf die Kinder- und Jugendsportschule (KJS) kommt. Bei Sichtungen ist sie als Leichtathletik-Talent aufgefallen. Eine Mittelstreckenläuferin mit Perspektive auf Olympiamedaillen, da sind sich die Trainer sicher. Beim SC Dynamo Berlin findet sich das Mädchen aus Sachsen-Anhalt inmitten der jungen Sportelite des Landes wieder: Sprinter, Werfer, Springer, Handballspieler, Turner, Radsportler, Schwimmer und noch mehr. Sie staunt. „Die Schwimmer, die hatten ja ein Kreuz! Damals dachte ich erst: Das kommt vom vielen Training, klar.“
Auf der Leichtathletikbahn fallen ihr später zwei Schwestern auf, viereinhalb Jahre älter als sie. Die können sprinten, wie Marina Kaschub es zuvor nicht gesehen hat. Und: „Sie sahen sehr vermännlicht aus. Da dachte ich: Vom Training allein kann das doch nicht kommen.“
10.000, nach manchen Schätzungen 15.000 Sportler wurden in der DDR gedopt. Schon Grundschüler erhielten unerlaubte leistungssteigernde Mittel, Turnerinnen und Eiskunstläuferinnen wurden Wachstumshemmer verabreicht, mit Dosierungen wurde experimentiert. „Staatsplanthema 14.25“ – hinter diesem Begriff verbarg sich das konspirative Zwangsdopingsystem. Als „Diplomaten in Trainingsanzügen“ sollten die Sportler Erfolge in politisches Renommee ummünzen. So wollte es das Zentralkomitee der SED. Was heute geblieben ist, beschrieb die „Neue Zürcher Zeitung“ kürzlich so: „Menschlicher Dividenden-Schrott“.
„Trainer, wissen Sie was? Wenn ich eines Tages so aussehen sollte wie die beiden Schwestern, dann höre ich auf. Ehrlich.“ „Ach, Marina...“
Mit 14 oder 15 Jahren bekommt Marina Kaschub ohne ihr Wissen erstmals Oral-Turinabol verabreicht, ein männliches Sexualhormon, das im DDR-Sport flächendeckend eingesetzt wird. Das Anabolikum lässt Muskeln wachsen, es ermöglicht härteres, ausdauernderes Training, noch schnellere Sprints. Regelmäßig erhält das Mädchen fortan Pillen zugesteckt. Mal in Fläschchen abgefüllt, mal lose, mal eingewickelt in Papier. Kaschubs Trainer ruft seine Sportlerinnen oft in sein Arbeitszimmer. Die zu den „unterstützenden Mitteln (UM)“ gehörigen Tablettenpackungen sieht sie nicht.
Heute sagt sie: „Ich fand meinen Trainer nett. Im Nachhinein aber fragt man sich: Was waren das für Menschen, die das getan haben? Man ist enttäuscht. Sehr enttäuscht.“ Mit dem zunehmenden Abstand, mit dem Jahrestag des Mauerfalls vor 25 Jahren vor Augen, sagt Kaschub: „Mich erschüttert, wie sie uns die Kindheit genommen haben.“ Die frühe Selektion. Der Umzug aufs Internat. Der Drill. Die ständige Überwachung. „Nur die Leistung zählte. Der Mensch an sich war nichts.“ Und vor allem war da, bei allem Teamgeist und bei allen auch schönen Erinnerungen an die Gemeinschaft unter Sportlern: das Doping.
Marie Katrin Kanitz kennt die Schicksale der Betroffenen. Die ehemalige Eiskunstläuferin berät beim Doping-Opfer-Hilfeverein (DOH) Geschädigte, vermittelt ihnen Juristen und Fachärzte. Oder sie hört ihnen einfach nur zu. Rund 700 frühere Sportler hat der DOH gelistet, allein seit der Gründung der vom Bundesinnenministerium geförderten Beratungsstelle im Oktober 2013 meldeten sich mehr als 100. Ihre Probleme infolge des Zwangsdopings sind verheerend: Krebs, Unfruchtbarkeit, Tumore, behinderte Babys, Organschäden, Gelenkschäden, und fast jede und jeder hat psychische Probleme, mitunter bis hin zu Suizidgedanken. Kanitz sagt: „Für viele Betroffene ist es schmerzhaft, in die Beratungsstelle zu kommen, aus sich herauszugehen. Viele schieben den Schmerz beiseite.“
Auch Marina Kaschub schob den Schmerz jahrelang von sich. Arthrose plagt sie, beide Knie schwellen unter Belastung schnell an, als einzige in ihrer Familie ist sie extrem kurzsichtig, minus 14 Dioptrien, unaufhaltbar. Dazu Depressionen und die Frage: Was haben die Dopingmittel damals alles in ihr ausgelöst? Sind sie indirekt auch dafür mitverantwortlich, dass sich ihr älterer Sohn – ein intelligenter, beliebter, anfangs aufgeweckter, jedoch seit dem Teenageralter wohl unter einer Psychose leidende 21-Jähriger – vor zehn Jahren das Leben nahm?
„Hier, Marina, hier haste noch was. Eine halbe Stunde vorm Rennstart trinkste die ganze Flasche aus! Dann haste richtig Power auf den letzten 100 Metern. Wirste sehen.“
1973. Junioren-Weltmeisterschaften in Duisburg. Kapitalistisches Ausland! Klassenfeind! „Solche Reisen waren ja auch Auszeichnung für uns.“ Im 800-Meter-Rennen wird Marina Kaschub Vierte. „Platz vier. Das war nichts! Das war richtig böse.“ Die 16-Jährige trainiert fortan noch härter.
„Marina, das nehmen doch alle. Das ist nur das letzte Quäntchen, das i-Tüpfelchen. Das kriegen nur die Besten.“
1979. Das Jahr vor den Olympischen Spielen. Marina Kaschub erhält von Trainer, Klub und System einen „Auftrag“, wie sie es nennt: die Teilnahme in Moskau 1980. Ruhm und Ehre und Erfolge fürs Vaterland. Sie ist 22 Jahre alt, trainiert Umfänge und Intensitäten, die ihr heute, im Rückblick, extrem vorkommen. Damals sind sie normal. Doch dann bricht sich die Leichtathletin den Fuß. Einmal. Ein zweites Mal. Ein drittes Mal. „Ich war einfach zu ehrgeizig.“
1980 beendet sie ihre Leistungssportkarriere, studiert, will Lehrerin werden. „Sie haben mir gesagt: Wenn du mal aufhörst mit dem Sport, Marina, musst du langsam abtrainieren.“ Das Herz ist stark vergrößert. Nur: An vorsichtiges Abtrainieren ist nicht zu denken. Marina Kaschub ist schwanger. Nach der Geburt ihrer Tochter „litt ich sagenhafte Schmerzen“. Eine Ärztin stellt fest: Ihre Bauchspeicheldrüse ist seltsam stark geschwollen. Medikamente vertreiben die Schmerzen der jungen Mutter. Was bleibt, sind erste Phasen tiefer Depression.
25 Jahre nach dem Mauerfall ist die Situation der DDR-Dopingopfer „nicht nur schlecht, sondern katastrophal. Die Körper sind kaputt, die Seelen sind kaputt“, sagt Ines Geipel (54), die Vorsitzende des DOH. Beharrlich mahnt die frühere Leichtathletin, sie appelliert an das Verantwortungsbewusstsein von Politik und organisiertem Sport, das Vergangene nie zu vergessen, um so daraus für Gegenwart und Zukunft zu lernen. Geipel sagt: „Der Sport holt sich die jungen, talentierten Leute, zerreibt sie in seinem System – und in dem Moment, in dem sie aussteigen, gibt es keinen Blick mehr für sie.“ 2002 und 2006 wurden an weniger als 200 Ex-Sportler Einmalentschädigungen bewilligt. Im besten Falle erhielt ein DDR-Dopingopfer so knapp 20.000 Euro. Für Schwerstgeschädigte, die mitunter horrende Folgekosten zu berappen haben, war es ein Tropfen auf dem heißen Stein. Zuletzt scheiterte 2013 die Grünen-Fraktion im Bundestag am Widerstand der anderen Parteien mit der Anregung, Dopingopfern eine kleine Rente von wenigstens 200 Euro monatlich zu zahlen. Die aktuelle Idee des DOH: ein Hilfsfonds.
Januar 2014. Berlin. Auf einem Symposium des DOH und durch Berichte anderer Ex-Sportler wird Marina Kaschub klar: Das Doping, das sie nie wollte, das Oral-Turinabol hat ihr Leben maßgeblich beeinflusst. Und: Sie ist nicht allein mit ihren Nöten. Früher hat sich die heute 57-Jährige als Lehrerin immer dagegen gesträubt, wegen ihrer gesundheitlichen Probleme wenigstens einen „Antrag auf Feststellung nach dem Schwerbehindertenrecht“ zu stellen, wie es im Amtsdeutsch heißt. Sie sagt: „Ich wollte mich immer stark fühlen. Aber jetzt habe ich mich entschlossen: Ich stelle den Antrag.“
„Sie nahmen uns die Kindheit“Von Jens Hungermann | Veröffentlicht am 08.11.2014 | Lesedauer: 6 Minuten 25 Jahre nach dem Mauerfall melden sich immer mehr Opfer des DDR-Dopings. Eine Betroffene erzählt ihre Geschichte
Auch Christiane Sommer, erste Frau unter 1 Minute in 100 Meter Delfin kann über eine traurige Kindheit berichten, wo der Papa ergeizig war, wie das System selbst.
Richtig erschrocken war Frau Sommer, als ihr Trainer nach dem Mauerfall plötzlich in Österreich tätig war. Das war aber kein Einzelfall! Unser Land, dessen Fachverbände rissen sich förmlich um ehemalige DDR-Trainer.
Aus den Stasi-Akten des Sportmediziners Bernd Pansold / Berliner Zeitung 1998
Ich lernte einige in meiner Zeit als BSO-ÖBV-Sportkoordinator bei gemeinsamen Meetings in der Prinz-Eugen-Straße kennen und muss zugeben, dass ich von deren Wissen absolut begeistert war und hoffte, dass diesen Menschen - vielleicht ohne deren Wissen ? - Doping von oben verordnet wurde. Heute, um einige Jahre erfahrener, glaube ich das nicht mehr.
Metoo müsste jedem die Augen öffnen und selbstverständlich kann es nicht sein, dass den Trainern nicht irgendetwas auffiel, wenn Intimes sowieso nie respektiert war.
Für mich als Trainer wäre es wünschenswert, wenn Verantwortliche endlich die Wahrheit ans Licht bringen anstatt zu "mauern" und sich der eine oder andere Schuldige, mit einer riesengroßen Entschuldigung meldet und für seine Taten geradesteht.
Den Erziehungsberechtigten rate ich, dem Wohle des Kindes zu dienen und eigene Wünsche unbeachtet zu lassen. Sonst werden die Jungen maximal nur so gut wie wir. Und das ist zu wenig.